galante Dichtung: Erotische Literatur

galante Dichtung: Erotische Literatur
galante Dichtung: Erotische Literatur
 
Wie im menschlichen Leben nimmt die Erotik auch in der Literatur seit Menschengedenken eine herausragende Stellung ein. Im 18. Jahrhundert, dem galanten Zeitalter, wird die Bandbreite erotischer Erscheinungen in der Literatur allerdings deutlich erweitert. Seit 1704 eine Auswahl der Märchen aus »Tausendundeiner Nacht« in der Übersetzung von Antoine Galland erschienen war, befand sich Frankreich in einem Orientfieber, das selbstverständlich auch die Künstler erfasste. Mit dem Orient verbanden sich neben exotischen auch erotische Vorstellungen. So war es nicht verwunderlich, dass Crébillon fils für seine als moralische Erzählung (»conte moral«) getarnte freizügige Erzählung (»conte licencieux«) »Das Sofa« (1742) ein orientalisierendes Ambiente wählte. In der Rahmenhandlung erzählt der Titelheld Amanzéi seinem Sultan, wie er in einem früheren Leben zur Strafe für seinen lasterhaften Lebenswandel in ein Sofa verwandelt worden sei. Er berichtet nun ebenso anschaulich wie aufschlussreich, welche Eindrücke er als »Sofa-Seele« von den Handlungen seiner Zeitgenossen gewonnen hat.
 
Zuvor schon hatten einige Autoren die Handlung ihrer Romane in den Orient verlegt, wie etwa Montesquieu in seinen »Persischen Briefen« (1721). Auch der Schauplatz von Denis Diderots Roman »Die indiskreten Kleinode« von 1748 ist der Orient, doch ist die Hauptidee dem alten französischen Fabliau »Der Ritter, der die Mösen zum Sprechen brachte« entnommen. So erhält hier Prinz Mangogul die Fähigkeit, kraft eines Rings den »kostbaren Kleinodien« der Damen gegen deren Willen so allerlei Indiskretionen zu entlocken. Interessant wird der Roman jedoch nicht nur durch die Leichtigkeit der Erzählung, sondern auch durch seine Beziehung zum Gesamtwerk Diderots; denn dessen Grundideen finden sich hier pikant angerichtet wieder: die aus sensualistischer Quelle inspirierte Kritik am Leib-Seele-Dualismus René Descartes' ebenso wie die später in »Rameaus Neffe« entwickelten Überlegungen zur Musik. Insgesamt wurde der Körperlichkeit im 18. Jahrhundert unter dem Einfluss der sensualistischen Philosophie John Lockes, nach der Erkenntnis allein aus Sinneseindrücken gewonnen wird, und des aufkommenden Materialismus ein neuer, erhöhter Stellenwert beigemessen, was dazu führte, dass erotische Romane häufig schon als »philosophische« Romane galten.
 
Nicolas Restif de La Bretonne, der 1775 den Briefroman »Der verdorbene Bauer oder Die Gefahren der Stadt« veröffentlicht hatte, erweiterte ihn später um »Die verdorbene Bäuerin« zu einem umfangreichen Zweiteiler über das Schicksal der vom Land zugewanderten Bevölkerung: ein ursprünglich tugendhaftes Geschwisterpaar erliegt in der Stadt den Verführungen des Lasters und geht schließlich zugrunde. Nachdem man Restifs Milieuschilderungen lange Zeit als publikumswirksame Effekthascherei angesehen hat, wird er heute als ein wichtiger Vorläufer des Realismus - besonders Balzacs - erkannt. Wenn die Charaktere in diesem Briefroman an Tiefe nicht mit denen Richardsons oder Rousseaus konkurrieren können, so liegt dies nur zum Teil an ihrer einfachen Herkunft. Restifs Versuch, den pikaresken Roman mit dem frivolen »Conte licencieux« einerseits und der für den philosophischen Roman kennzeichnenden Sozialkritik andererseits zu kombinieren, mag nicht immer ganz glaubwürdig erscheinen. Aber: Auch wenn so mancher bürgerliche Leser die »Bekehrung« des Mädchens vom Lande zum Laster nicht ohne sittliche oder unsittliche Erregung gelesen haben mag, so ist doch die Botschaft klar ausgesprochen - in der Großstadt warten nicht nur Ruhm und Reichtum auf den Zuwanderer, sondern auch »Verlorene Illusionen« (so der sprechende Titel eines Romans von Balzac).
 
Dem breiteren Publikum wurde 1989 durch gleich zwei Verfilmungen ein Meisterwerk wieder ins Gedächtnis gerufen: Der 1782 erschienene Briefroman »Gefährliche Liebschaften« von Pierre Ambroise Choderlos de Laclos entspricht ganz dem Bild des erotischen Romans des galanten Zeitalters, handelt er doch hauptsächlich von Verführung, die sich zunächst als pikantes Spiel anlässt. Dies gilt besonders für die Rahmenhandlung: Die Marquise de Merteuil plant Rache an ihrem ehemaligen Liebhaber, indem sie dessen Zukünftige, die junge tugendhafte Cécile de Volanges, verführen lassen will. Dabei ist ihr der Vicomte de Valmont behilflich, ebenfalls ein ehemaliger Liebhaber der Marquise. Die ritterliche Bewährung wird hier ganz ins erotische Erobern verlagert, das das teuflische Duo aber wiederum - als der Rache untergeordnetes Zwischenziel - vollkommen rational betreibt. Daher wird bei Laclos die Fleischeslust nie direkt dargestellt, sondern für Beteiligte wie Leser nur im Spiegel der brieflichen Schilderung erfahrbar.
 
Hier entfaltet die Form des Briefromans noch einmal ihre ganze Kraft für die moralistische Grundidee des Werks: Die Hauptfiguren des Romans spinnen in den Briefen ihre kunstvollen Intrigen unter der Voraussetzung, dass das Gefühl nicht nur rational kontrolliert, sondern geschaffen und gestaltet werden kann. Die Gefühlskälte der Helden als Repräsentanten der dekadenten Adelsgesellschaft des Ancien Régime zeigt sich in ihrer zur Maskenhaftigkeit erstarrten klassischen Sprache, die von Valmont in seinen Briefen an die Richardson verehrende Présidente de Tourvel jedoch trickreich mit der sentimentalen Schreibweise vertauscht wird. Die feine Ironie des Moralisten Laclos entlarvt diesen Schachzug als trügerische Illusion, denn Valmont fällt schließlich seiner stilistischen »Wolf-im-Schafspelz-Taktik« zum Opfer und verliebt sich tatsächlich in die Adressatin. Wenn auch die empfindsame Heldin Tourvel sterben muss und Cécile de Volanges ins Kloster geht, ist, wie das Ende lehrt - Valmont fällt im Duell, die Marquise wird gesellschaftlich geächtet und von Blatternarben entstellt - die Zeit der Marquisen und Grafen abgelaufen.
 
Donatien Alphonse François Marquis de Sade ist mit Sicherheit eine der komplexesten Gestalten der Literaturgeschichte. In seinen Werken geht es Sade um radikale Konsequenz der systematischen Revolte gegen die gesellschaftlichen Normen, deren Legitimät er nicht anerkennt. Gleichzeitig steht diese Revolte in extremem Gegensatz zu der von Rousseau vertretenen Auffassung, der Mensch sei von Natur aus gut. Sade verkehrt sie parodistisch ins Gegenteil. So lässt er in »Justine oder die Leiden der Tugend« (1797) die tugendhafte Titelheldin das schlimmste Schicksal erdulden, das er sich auszudenken vermochte: Schmach, Misshandlung und Folter waren ihr tägliches Los. In einer der Fassungen wird ihr auch noch der Hohn eines ungerechten Gottes zuteil, der sie am Ende mit einem Blitz vernichtet. Ihre Schwester, die durch und durch verdorbene Heldin von »Juliette oder die Wonnen des Lasters« macht dagegen eine blendende Karriere; ein Glanzpunkt ist die schwarzen Messe, die sie mit einem perversen Papst im Petersdom zelebriert. Trotz aller Gegensätze verbindet Sade vieles mit Rousseau, so besonders die radikal auf das Naturrecht gegründete Grundposition seiner Zivilisationskritik. Da Sade diese jedoch nicht systematisch formulierte und seine mit großer formaler Meisterschaft gestalteten Werke so ziemlich alle zeitgenössischen Stile und Strömungen persiflieren, herrscht bis heute Uneinigkeit über sein Werk und seine Philosophie. Dieser Tatsache dürfte sich auch die anhaltende Faszination verdanken, die von Sades Texten ausgeht.
 
Dr. Juri Jakob
 
 
Französische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.

Universal-Lexikon. 2012.

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